Was ist Zeichnung? Denkt man erst einmal an Bleistiftstriche auf Papier, ist man nicht alleine. Gut, dass es die Albertina gibt, die sich 2015 um eine Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Zeichnungsvielfalt bemüht. Großformatig wandauslaufend, auf Video, als Rauminstallation, abstrakt und figurativ folgte VIENNARAMA der Welt der Linienführung.
Drawing an Orange Line
Orangene Bänder schlängeln sich scheinbar willkürlich am Gebäude der Albertina entlang. Was auf den ersten Blick wie eine seltsame Sicherheitsmaßnahme aussieht, trägt die Kernaussage der Drawing Now: 2015 auf anschauliche Art und Weise nach außen. Die Erweiterung des Zeichnungsbegriffes setzt der Künstler Rainer Prohaska in diesem Fall nicht innerhalb der vier Wände, sondern (nun nur noch auf Fotos zu sehen) auch an der Außenseite der Albertina um. Das macht uns neugierig und so nehmen wir die Rolltreppe Richtung Untergeschoß und tauchen bereits mit an der Decke entlanglaufenden Begleitlinien in die Welt des Striches ein.
Die Zeichnung erobert den Raum
Unten angekommen wird unser engstirniger Begriff der Zeichnung just auf ironische Art und Weise ad absurdum geführt: Gerade die Rolltreppe hinter uns gelassen, setzt uns Fritz Panzer eine ebensolche wieder vor die Nase. Doch nicht in ihrer schwer-maschinellen Monströsität kommt sie daher, sondern nur ein „gezeichneter“ Ausschnitt aus filigranem Draht, der sich mal hier, mal da, wie eine Linie auf Papier in der Atmosphäre verliert. Daneben Kontrastprogramm auf allen Ebenen. Zurück in der Zweidimensionalität empfängt uns das Bild „Gelber Doppeltornado“ der Gruppierung Los Carpinteros. Die Auslotung geschieht hier in der Zusammensetzung des Bildinhaltes: Gelbe Legosteine konstruieren die Wirbelstürme und schaffen somit eine eigene Bausteindynamik.
„Raumzeichnung (Vortex)“ nennt sich das dritte Einführungskunstwerk, das zwischen Wänden aufgespannt von zwei Seiten betrachtet werden kann. Monika Grzymala „zeichnet“ hier mit 3,6 km schwarzem und weißen Papierklebeband. Doch an Einzigartigkeit wird es im Folgenden keinem Objekt innerhalb der Ausstellung mangeln.
Die Vielfalt des Eidos
Während Aleksandra Mir mit ihren Schwarz-Weiß-Zeichnungen wandeinnehmende, um die Ecke reichende Bühnenbilddimensionen einnimmt, kombiniert Constantin Luser beispielsweise Traditionelles mit Experimentellem und lässt zusätzlich zu seinen Wandkritzeleien Drahtgebilde von der Decke hängen, die sich dem Besucher in den Weg zeichnen. Nikolaus Gansterer geht noch einen Schritt weiter und präsentiert sein Transpositionsmodell II als Performance auf einem Tisch. Kugeln, Hängeinstallationen, Kreide, Kreideschrift und -zeichnungen, Spiegelobjekte und Gefäße bilden eine Art „Zeichnungslabor“. Spielerischer bewegt sich Dan Perjovski, der Wände, Fußböden, Decken, Fenster und Pflasterstein mit seinen schultafelähnlichen Kritzeleien verziert. Geometrisch-utopisch wagt sich Paul Noble mit seinen düster anmutenden Stadtplänen an Themen wie Strafe durch Zeit heran und bringt den Besucher zum nachdenken.
Untergrund & Transzendenz
Dass auch das Leben Dinge zeichnet, macht wiederum Anna Barriball sichtbar. Mit der Frottagetechnik, das heißt, indem sie mittels Schraffur die Unebenheiten eines Materials auf ein Medium wie Papier überträgt, zeigt sie beispielsweise in Mirror Window Wall II und Door II, dass auch der Charakter von Ziegelsteinen und Holz einmalig sind und in der Zeichnung jedem zugänglich werden. Hyperrealistisch hingegen präsentiert Toba Khedoori „Weiße Fenster“ oder einen an die Wand gelehnten Stock. Eine perfekte Illusion, die den Betrachter angenehm irritiert.
An das andere Ende der Skala setzt sich Jorinde Voigt mit ihrer Serie „Liebe als Passion, Zur Codierung von Intimität“, die sich mit Arbeiten des Soziologen Niklas Luhmann beschäftigt. Die abstrakten Diagramme übersetzen einzelne Sätze und Thesen in Kunst und interagieren als Pfeile, Worte, Bewegungen, Gold- und Silberflächen, dann wieder als körper- oder pflanzenhafte Gestalten miteinander. Mit ihrer genreübergreifenden Auseinandersetzung stellen die Bilder mitunter einige der außergewöhnlichsten Kompositionen der Ausstellung dar.
VIENNARAMA-Fazit: Für Hobbyzeichner und Grafiker ein Muss! Die Bandbreite der Interpretationen könnte größer nicht sein und inspiriert zusehends. Aber auch wer nicht genau weiß, welche aktuelle Ausstellung seinen Vorlieben entspricht oder wer einen Sonntag auf gemütliche Weise totschlagen will, ist in der Drawing Now: 2015, die noch bis 11.Oktober läuft, gut aufgehoben. Denn wenn eines sicher ist, dann das: Hier ist für jeden was dabei!
Am 11.Oktober findet in den Prunkräumen der Albertina die Finissage mit Impulsvorträgen und Kurzperformances statt.
Drawing Now: 2015
Täglich 10:00-18:00, Mittwoch: 10:00-21:00
Albertinaplatz 1
1010 Wien
Foto-Credits: Albertina; Norbert Miguletz, Christian Wachter, Paul Noble, Toba Khedoori
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