Was ihr als Leser nicht wisst, ist, dass diese Kolumne hier genauso gut ‚Grätzlg’schichten‘ hätte heißen können, wenn die Abstimmung nicht ganz knapp zum heutigen ‚Stammcafé‘ hin tendiert hätte. Denn genau darum geht es – stille Fleckchen, belebte Orte, kleine und große Eigenheiten von charmant bis brachial. Das, was Wien zu Wien macht, sind viele Kleinigkeiten, mehr oder weniger unauffällig, die sich zu dem großen, bunten Mosaik zusammensetzen, das wir so lieben.
Von Kultur und Subkultur
Das Wort Grätzl lässt sich der Recherche nach am Wahrscheinlichsten von dem mittelhochdeutschen Wort „Gereiz“ ableiten, welches für die gerissene Grenze einer Gegend und deren Umkreis steht. Diese begrenzten Gegenden sind soziale, nicht genau definierte Einheiten, die sich in Größe, Bewohnerschichten und urbaner Ästhetik alle voneinander unterscheiden und dadurch das Erklären dieses Ausdrucks fast schon zu kompliziert für so manch gemütlichen Einwohner macht. Der echte Wiener weiß es eben. Meist entstanden sie um besonders belebte Gebiete herum, sprich um Märkte, Kirchen oder Siedlungen. Vom ersten bis zum 23. Bezirk gäbe es wohl so einige, ja wahrscheinlich könnte man sogar ein ganzes Buch mit unseren Grätzln und deren Ureinwohner füllen, ich jedoch erzähle euch heute mal von meinem, um den Rahmen eurer Sonntagskolumne nicht zu sprengen. Also nicht vom aktuellen, sondern vom alten, vom damaligen. Wobei das damalige das heutige nur um ein paar Meter verfehlt, aber schon komplett was and’res ist. Schwierig, diese Grätzlg‘schichten, oder?
Ich habe nun die zwei Jahre, die ich hier im schönen Wien wohne, in einem Zwischenraum zweier Grätzln gewohnt, (wenn man es ganz genau nimmt). Zum einen dem Hernalser Kalvarienberg, der in den Elterleinplatz mündet und der berühmt berüchtigten Ottakringerstraße, die sich, wenn man ein Seitengässchen abzweigt, mit der Brunnenmarkt-Yppenplatzpassage publikumstechnisch um 180° dreht.
Der erste Eindruck war eine Mischung aus ländlicher Zurückhaltung und gesundem Respekt dem Ruf dieser Gegend gegenüber. Noch immer klingen mir die Worte meines damaligen Mitbewohners im Ohr. „Die Ottakringerstraße is‘ cool. Wenn du keinem in die Augen schaust, überlebst.“
Hier sind die Autos tiefer, die Stereoanlagen dröhnender (die ganze Nacht hindurch), die Haare geliger und die Streitereien lauter. Aber Hunde, die bellen, beißen nicht und so habe ich schnell herausgefunden, dass man sich auch nach Einbruch der Dunkelheit unbewaffnet aus dem Haus trauen kann. In diesen zwei Jahren ist mir diese Gegend ans Herz gewachsen, mit all ihren multikulturellen Facetten, auch wenn die meisten meiner Freunde aus unerfindlichen Gründen nicht ihre Adresse mit mir tauschen wollten. Leichter wird’s, hat man noch dazu die Eingeborenensprache erlernt. „Mochst du heite?“ – „Jo, i moch Beine.“ – „Passt oida, i a!“ Ein Dialog zweier Fitnessfanatiker, die sich für ein gemeinsames Stelldichein in der hiesigen Muskelkammer verabredeten, mit Schwerpunkt auf die unteren Extremitäten. Nach langen Studien spreche ich diesen Dialekt nun fließend, oida.
Schokoduft und Biergeruch
Es sind vor allem die täglichen Wege, die einen an seine Umgebung fesseln. Jene, an denen man unweigerlich vorbeikommt, die fast schon zur täglichen Routine werden. Da ist zum einen die Kalvarienbergkirche mit ihrem lauschigen Vorplatz, die in der Abenddämmerung die letzten Sonnenstrahlen auffangend, ein rötliches Strahlen besitzt. Ich hörte ihre Glocken jeden Tag im Badezimmer läuten und wusste dann, dass es Sieben Uhr und Zeit sich ein bisschen zu beeilen war. Der Elterleinplatz, den wohl jeder kennt, der der Sendung „Wir leben im Gemeindebau“ genauso verfallen ist wie ich.
Der Yppenplatz, der sich vor allem in den letzten Jahren besonders bei der jüngeren Bevölkerung etabliert hat und mit Mode und netten Restaurants gleichermaßen aufwartet und sich am Wochenende in einen lebhaften Markt verwandelt.
An bestimmten Wochentagen riecht es, dank der nahegelegenen Ottakringer-Fabrik, in der ganzen Umgebung nach Bier. Besser gesagt nach Hefe, die wiederum nicht allzu köstlich riecht. An anderen Tagen wiederum verbreitet die Manner-Schokoladenfabrik einen so starken Duft nach frischer, flüssiger Schokolade, dass einem regelmäßig das Wasser im Mund zusammenläuft.
Ihr seht, ich habe diese Gegend ins Herz geschlossen. Es stimmt, sie ist nicht die schönste von allen und leider auch nicht die Sauberste. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich gerade hier die intellektuelle Avantgarde Wiens trifft. Aber vielleicht macht gerade das ein Grätzl so sympathisch. Die Einfachheit, das Multikulturelle und das Augenzwinkern, mit dem man manches im Leben einfach nehmen muss.
Und Jetzt? Jetzt wohne ich in einem anderen Grätzl in Wien. Gar nicht so weit weg vom damaligen, aber trotzdem eine völlig andere Welt. Wo genau, fragt ihr euch jetzt? Tja das ist vermutlich ein ganz eigenes ‚Stammcafé‘ wert.
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